Protokoll der 30. Abendaussprache


Quelle: Berlin, Landesarchiv: Rep. 140, Acc. 4573: Schulfarm Insel Scharfenberg: Chronik der Schulfarm Insel Scharfenberg, Bd. II, S. 92f.

[Datum: So, 13.05.1923 - Protokollant: Rudi Frey]




Nachdem Herr Bandmann und Freund Rosolleck zur Einleitung den ersten Satz aus einer Klavier- und Cellosonate von Beethoven gespielt haben, weist Herr Blume auf das ungewöhnliche und für die Eingetretenen vielleicht erschreckende Thema dieser Abendaussprache hin. Es sei vom vorigen Schuljahr die Frage übrig geblieben, wer zu bestimmen habe, ob ein Mitglied der Gemeinschaft aus dieser ausgeschlossen werden soll oder nicht. Beim Abgang Ferdi Stengers habe er, um dem bisherigen Grundsatz der gemeinsamen Beratung aller Dinge treu zu bleiben, durch Stimmungsabstimmung die Meinung der Gemeinschaft festgestellt, und zwar durch Zettel, um etwaige Störungen der Harmonie zu vermeiden. Fritz betont noch einmal, daß beim Ausschluß wegen unterrichtlicher Dinge doch nur die Lehrer entscheiden könnten. Kraemer stellt die besonders von Wolff, Rosolleck und Gawronski angefachte Meinung auf, der Leiter solle diktatorisch den Ausschluß bestimmen. Die Schüler, und namentlich die Jüngeren seien sich der Tragweite eines Ausschlusses nicht bewußt. Heinrichsdorff schlägt vor, den bei Stenger angewandten Modus beizubehalten, aber eine öffentliche Aussprache vorangehen zu lassen, wogegen Martin Grotjahn einwendet, man müsse sich und der Gemeinschaft hierbei doch zu wenig Rechenschaft über sein Tun ablegen. Dies entspräche zu wenig der Wichtigkeit der Sache. Bandmann faßt noch einmal zusammen und sagt: Man will also sozusagen aus Bequemlichkeit die Verantwortung auf den Leiter schieben. Wird der Ausschuß von Einem bestimmt, so sind wir diktatorischer als jede andere Schule, denn dort wird der Beschluß des gesamten Lehrerkollegiums dem Elternbeirat vorgelegt, nachdem er vom Direktor genehmigt ist. Bei uns gibt es dann nur eine Strafe: den Ausschluß. Es ist ein Armutszeugnis für die Gemeinschaft, jemanden auszuschließen, weil man ihn nicht zum Leben erziehen kann. Blumes Satz: "Diktatur bricht unser Prinzip" widerlegt Kraemer damit, daß er sagt, man habe ja in diesem Falle dann auf die Entscheidung selbst verzichtet. Durch das Wort: "Es gibt dann für alles nur eine Strafe" kommt Baader auf die Frage: Welches sind die Gründe, die zum Ausschluß führen können. Dem Satz: Es kommen nur Schädigungen der Gemeinschaft auf moralischem Gebiet in Frage, wird

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zugestimmt. Metz will unterscheiden zwischen Schäden, die aus Veranlagung der Einzelnen entstehen und Schäden anderen Ursprungs. Hiergegen wettert Wernecke: Schaden bleibt Schaden, wer Scharfenberg schadet, muß raus! Wolff: Man muß durch gegenseitiges Erziehen die Schäden verhüten. Aber wer entscheidet, ob ein Schaden zum Ausschluß aus der Gemeinschaft groß genug ist? Kraemer: Am besten der Leiter. Blume wendet dagegen ein, daß der Leiter die Motive schwer gegeneinander abwägen könne, da er, weil wir jetzt so viele seien, sich um den einzelnen Schüler nicht so sehr kümmern könne, wie früher. Kraemer ist gegen den Vorschlag, die Gründe zum Ausschluß in offener Aussprache vorzubringen und zu besprechen. Es könne sich bei einer Abstimmung eine vielleicht nur geringe Mehrheit ergeben, die eine ebenso große Diktatur bedeuten würde, wie ein Bestimmen des Leiters. Blume: In offener Aussprache wird alles viel gründlicher erwogen. Eine zu geringe Mehrheit läßt durch bestimmen von 2/3 oder 3/4 Mehrheit umgehen bzw. beseitigen. Einstimmigkeit wird nie erreicht werden, einzelne müssen sich dem immer fügen. Aber wer stellt fest, ob der Schaden groß genug ist. Wernecke: Schaden bleibt Schaden; wer Scharfenberg schadet (nicht nutzt (Berisch)) muß raus. Rücksichtnahme ist Unsinn. Bandmann entgegnet: sollen die, die nicht leben können, nicht zum Leben erzogen werden? Wollen wir nicht den Sündern wenigstens eine Besserungsfrist gewähren? Baader vertritt die Ansicht, man könne jetzt noch keine Rücksicht nehmen, Scharfenberg sei noch im Kriegszustand, erst nach Schaffen einer festen Tradition seien wir fähig, auch schwierigere Menschen zu erziehen. Hierauf fordert Blume Abstimmung: Hält sich die Gemeinschaft für fähig, darüber abzustimmen oder nicht, ob jemand Scharfenberg verlassen soll. (Es stimmten in diesem Fall, weil er noch vom vorigen Jahre übrig war, die Neuen noch nicht mit.) Dafür erklärten sich 13 Stimmen, dagegen 7 Stimmen.

Wegen zu sehr fortgeschrittener Zeit wurde nun ein Schlußantrag mit 10 gegen 9 Stimmen angenommen, und Bandmann spielte als Abschluß die zweite ungarische Rhapsodie von Liszt.

Rudi Frey.



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